Minderheiten und Mehrheiten in der Erzählkultur
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Die Reformation setzte neben fundamentalen theologischen auch erhebliche gesellschaftliche Entwicklungen in ganz Europa in Gang. Für viele kleine Völker stellte die Spaltung der Kirche und die Ausbildung konkurrierender christlicher Konfessionen am Beginn der Neuzeit eine Zäsur dar, die einen tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandel mit sich brachte. Der vorliegende Konferenzband widmet sich in vergleichender Perspektive am Beispiel der Sorben, Esten und Letten den langfristigen Auswirkungen von Reformation und Konfessionsbildung auf die Glaubens- und Lebenswelten der kleinen Völker Ostmitteleuropas im 16. und 17. Jahrhundert. Insgesamt 17 Beiträge aus den Geschichts-, Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaften sowie aus der Theologie und der Kunstgeschichte gehen einerseits den Brüchen und langfristigen Entwicklungen im Gefolge der Reformation, andererseits aber auch den Kontinuitäten zwischen vor- und nachreformatorischer Zeit nach.
Krabat, der Zauberer, ist die bekannteste Figur der Lausitzer Märchen- und Sagenwelt. Die im 19. Jahrhundert in Sorbisch festgehaltenen Volkserzählungen, die nun einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden, berichten von einem, der in einer Schwarzen Schule das Zaubern erlernte und seine Fähigkeiten überwiegend zum Wohl anderer einsetzte. Im Vergleich zu verbreiteten Sagen über Teufelsbündner und Hexen erscheint dieser positive Ruf überraschend. Die Angst vor übernatürlichen Kräften war groß, und das Erzählen über das Eindringen von Geistern in den Alltag weit verbreitet. Kirchliche und staatliche Behörden versuchten, das „abergläubische Geschwätz“ zu unterdrücken, was dazu führte, dass einige einst gefürchtete Gestalten verharmlost wurden. Seit der Frühaufklärung erlebten Hexer, Heiler und magische Orte einen Bedeutungswandel, der auch in den Krabatsagen und dem Märchen von „Zauberer und Schüler“ sichtbar wird. Historische Fakten wurden mit universellen Erzählmustern über Zauberer und Gaukler verknüpft und neu interpretiert. Zudem zeigen die literarischen Bearbeitungen im 20. Jahrhundert und die Entwicklungen in der Krabat-Region seit dem 21. Jahrhundert, dass das „Erzählen über Krabat“ sich stets an den vorherrschenden Medien orientiert und kontinuierlich neue Formen annimmt.
Aufgrund der so verschiedenen wie wechselhaften Herrschaftsverhältnisse haben Oberlausitz und Niederlausitz im Laufe von Jahrhunderten eine jeweils eigene geschichtliche Gestalt erhalten, was sich auch im Bewusstsein der Menschen widerspiegelt. Der einzige Grund, trotzdem von „der Lausitz“ zu sprechen, sind die Sorben, die seit mehr als tausend Jahren in diesem Gebiet leben. Das Zusammenleben von Sorben und Deutschen dürfte die wohl bemerkenswerteste Eigenschaft dieser Region sein. Die geografische Bezeichnung „Lausitz“ bündelt eine Vielzahl räumlicher Vorstellungen: als Siedlungsraum, Wirtschaftsraum oder Kulturraum, als Grenzraum oder Sprachraum. Und wie erfahren sie die, die in ihr leben? Die in dieses Lesebuch eingeflossenen „Raum-Erfahrungen“ beleuchten das Verhältnis von einer Region und ihren Menschen und präsentieren Sichtweisen in der Ober- und Niederlausitz Lebender über Land und Leute.