Das „mystische Weinfass“ zählt seit seiner Veröffentlichung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu den bekanntesten Dichtungen der altenglischen Literatur. Das aus 157 alliterierenden Langzeilen bestehende, einzigartige Gedicht verkörpert ein ungewöhnliches Genre der angelsächsischen Rätselliteratur, das erstmals von der Autorin hier erkannt und beschrieben wird.
Renate Laszlo Livres






Trüffel und Eichbaum & Rüde und Wölfin
Zwei altenglische Rätsel des angelsächsischen Exeterbuches und ihre Lösungen
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Die Untersuchung beleuchtet die Tradition der germanischen Rätsel und analysiert ausgewählte altenglische Rätseldichtungen des siebten Jahrhunderts. Sie zeigt, dass mittelalterliche deutsche Rätsel mit diesen altenglischen Exemplaren eine gemeinsame Quelle teilen, exemplifiziert durch das Weinfassrätsel im Codex Vercellensis. Zudem wird eine Verbindung zu antiken lateinischen Rätseln hergestellt, die bereits im dritten Jahrhundert nach Christus dokumentiert sind, und widerlegt die Annahme, dass diese lateinischen Rätsel die Quelle der alt-germanischen Rätseldichtung sind.
Der mittelalterliche Gelehrte Alkuin von York verdankt seinen Bekanntheitsgrad in der Neuzeit vor allem, dass er lange Zeit als wichtigster Berater Karls des Großen galt. Während des Mittelalters war Alkuin dagegen sowohl in England als auch auf dem Kontinent unbekannt. Erst im 17. Jahrhundert fanden seine lateinischen Schriften, die er als Studienmaterial für seine Klosterschüler verfasste, erste öffentliche Beachtung. Im 18. Jahrhundert wurden Alkuins literarische Ausarbeitung über die Bischöfe, Könige und Heiligen der Kirche von York und auch seine rund 300 überlieferten Briefe als wahre Begebenheiten aufgefasst. Alkuins Leben, sein Wirken und seine Zeit wurden aus seinen Werken abgeleitet. Dass es sich bei seinen Briefen um eigens für den Lateinunterricht entworfene Mustertexte mit erfundenen Inhalten und imaginären Adressaten handelte, wurde zu dieser Zeit völlig übersehen. Folglich wurde von dem Autor und seiner Zeit ein Geschichtsbild entworfen, das unzutreffender und widersprüchlicher nicht sein könnte.
Renate Laszlo M. A. ist für ihre bedeutenden Veröffentlichungen über angelsächsische Rätsel sowohl im In- als auch im Ausland bekannt. Ihre Biographie über den britischen Heerführer Arthur zeigt dessen historische Identität und Lebensweg im fünften Jahrhundert. Während ihrer Studienzeit beschäftigte sich die Autorin mit alten Formen der germanischen, romanischen und slawischen Sprachen sowie der vergleichenden Sprachwissenschaft. Später spezialisierte sie sich auf die Sprachvariante, die in Britannien von der Invasion der Angelsachsen bis zur normannischen Eroberung gesprochen wurde und ab der zweiten Hälfte des siebten Jahrhunderts auch zur Niederschrift landessprachlicher Literatur diente. Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin für Fremdsprachen und als Ehefrau und Mutter von zwei Söhnen forscht Renate Laszlo seit Jahrzehnten erfolgreich zur altenglischen Sprache und Literatur. Besonders hervorzuheben ist ihre beeindruckende Analyse des einundvierzigsten Rätsels des Exeterbuches, dessen Thema die Sonne ist. Durch den Vergleich mit der lateinischen Übersetzung von Bischof Aldhelm gelingt es ihr, die Entstehungszeit des Rätsels zu bestimmen und aufzuzeigen, dass die landessprachliche Fassung der lateinischen Version voranzustellen ist.
Dat genitor genito, quod se non sentit habere nec quaquam in genitore potes cognoscere, lector, quod praebuit firma nascenti pectore proli Diese lateinische Kurzform eines altgermanischen Rätsels stellt Petrus von Pisa 783 am Hof Karls des Großen seinem Landsmann Paulus Diaconus. Das altgermanische Original ist nicht erhalten, aber es existiert noch eine neunundzwanzigzeilige altenglische Fassung in einem Manuskript aus dem zehnten Jahrhundert. Im dreizehnten Jahrhundert taucht das Rätsel unvermutet bei den Sangspruchdichtern in individuell ausgearbeiteten Versionen auf, die so genial verschlüsselt sind, daß die gemeinsame Lösung bis heute nicht gefunden wird. Die in dieser Studie aufgeführten Sänger sind Wizlav, der mit dem gleichnamigen Fürsten von Rügen identisch sein soll, ferner Vriderich von Svnnenburc, Meister Kelin, Heinrich von Meißen, Reinmar von Zweter sowie Meister Singof und sein Kontrahent Rvmelant, außerdem der Marner, Heinrich von Mügeln, Meister Stolle und der Hardegger.
Der heilige Hieronymus berichtet in De viris illustribus von zwei poetischen Dichtungen des Firmianus Lactantius, einem Symposium und einem Hodoeporicon, die als verschollen gelten. Renate Laszlo ist die erste, die erfolgreich nach diesen Gedichten recherchiert. Mit ihrem Talent für das Aufspüren relevanter antiker und frühmittelalterlicher Quellen sowie ihrer Erfahrung im Lösen literarischer Rätsel gelingt es ihr, die kulturhistorischen Zusammenhänge zu entwirren und die anonymen poetischen Dichtungen in lateinischen Handschriften des Mittelalters sowie in modernen Übersetzungen zu identifizieren. Ihre Analyse von Symposium und Hodoeporicon präsentiert sie ebenso überzeugend und widerspruchsfrei wie ihre früheren Lösungen der altenglischen Rätsel des Exeterbuches. Laszlo erlangte bereits 1996 durch die Entdeckung eines germanischen Rätsels über ein mystisches Weinfass in einer Pergamenthandschrift der Kathedralsbibliothek zu Vercelli Bekanntheit. Mit ihrer aktuellen Studie über die poetischen Dichtungen des Lactantius gelingt ihr erneut ein bedeutender Erfolg.
Einen bemerkenswerten Beitrag zur germanischen Rätseltradition liefern die aus der altenglischen Epoche überlieferten Rätsel des Codex Exoniensis und Vercellensis. Das Rätsel über die „Zeit“ ist ein Kleinod altenglischer Lyrik, einmalig in seiner Komposition und dem Ideenreichtum, mit dem der Rätselautor dem Phänomen „Zeit“ beizukommen versucht. Das Gedicht hat in der Literatur auf dem Festland keine Entsprechung mehr, obwohl das Rätsel vor nahezu zweitausend Jahren in Germanien entstanden ist, was aus dem Inhalt, der Sprache und der Struktur deutlich wird. Ein weiteres germanisches Rätselthema ist der „Fisch im Fluss“, von dem ebenfalls nur noch die im Exeterbuch überlieferte Kopie existiert. In der deutschsprachigen Literatur taucht das Rätsel erst zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts auf, allerdings nicht in der germanischen Fassung, sondern als Nachdichtung eines alten lateinischen Rätsels. Ganz anders verhält es sich mit dem Rätsel vom mystischen Weinfass. Neben der im Vercellibuch überlieferten altenglischen, gibt es auch eine deutsche Fassung, die nach jahrhundertelanger mündlicher Tradition in verschiedenen Rätselsammlungen um das Jahr 1500 veröffentlicht wird und mit dem altenglischen Rätsel auf eine universale, germanische Quelle zurückgeht.
Im Laufe des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts werden in vier Bibliotheken, drei in England und eine in Italien, Bücher mit altenglischem Schrifttum aus dem ersten Jahrtausend entdeckt. Die in den im zehnten Jahrhundert verfassten Sammelhandschriften enthaltene Dichtung stammt größtenteils aus der frühaltenglischen Zeit, dem siebten oder achten Jahrhundert. Beda berichtet in seiner Kirchengeschichte über den Dichter Caedmon, der als einziger Poet dieser Zeit wunderschöne, alliterierende Verse in seiner Muttersprache verfasste. Trotz einer detaillierten Themenliste, die Beda erstellt, kann bisher nur ein Gedicht Caedmon eindeutig zugeordnet werden: ein neunzeiliger Hymnus auf die Schöpfung, der jedoch nur in einer lateinischen Nachdichtung überliefert ist. Renate Laszlo entdeckt im Codex Exoniensis den Originalhymnus des Poeten, eingebettet in den Prolog eines altenglischen Sonnenrätsels. Dieser Hymnus lässt sich problemlos aus dem Rätsel herauslösen und entspricht genau der Beschreibung, die Beda gibt. Zudem weist Laszlo für mehrere neu entdeckte Rätsel, die aus alliterierenden Langzeilen bestehen, unwiderlegbar Caedmons Autorschaft nach. Ihre Studie wird der Forschung auf diesem Gebiet neue Impulse geben und sie grundlegend neu gestalten.
