Diese Darstellung der literarischen Rezeption des Nibelungenliedes der letzten 180 Jahre, der etwa 50 Prosaadaptionen des Epos zu Grunde liegen, vermittelt einen Überblick über die Behandlung des Stoffes im Bereich der Jungend- und Unterhaltungsliteratur. Die in diesen Adaptionen vorgenommenen Anpassungen des Stoffs an die zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten stehen im Zentrum des Interesses dieser Arbeit. In der Abschlußanalyse wird der Frage nachgegangen, inwieweit es den Bearbeitern des Nibelungenstoffes gelang, die im mhd. Epos gesehenen Bedeutungspotentiale, die die frühe Nibelungenforschung nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon in nationaler Euphorie mit ihrer Aussage, das Nibelungenlied sei das deutsche Nationalepos, dem Stoff zwar zugeordnet hatte, die sich aber auf der Basis des Nibelungenliedes allein nur schwer oder überhaupt nicht realisieren lassen, in ihren Adaptionen zu aktivieren und sie an ein Massenpublikum weiterzugeben, wodurch die „nationale Aneignung“des Nibelungenliedes bis hin zu seiner Verwendung zu Propagandazwecken erst möglich wurde.
Bernhard R. Martin Livres


Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes ist eng mit seiner Stilisierung zum „deutschen Nationalepos“ verknüpft. Dieser Komplex wurde oft dargestellt und kritisiert, jedoch ohne die entdeckten Brüche und Unstimmigkeiten im Rezeptionprozess in einen schlüssigen Sinnzusammenhang zu stellen. Die Studie beleuchtet die Analogie zwischen der inhaltlichen Brüchigkeit des Nibelungenliedes und den späteren Interpretationen. Anstatt die als „ästhetische Schwäche“ kritisierten, logisch nicht verknüpften Motivgruppen als Defekte zu betrachten, geht sie von diesem Faktum aus und entschlüsselt die treibenden Mechanismen der Nibelungenrezeption. Werk und Wirkungsgeschichte werden erstmals als zusammenhängend analysiert. Die Anpassungsfähigkeit des Nibelungenstoffes an neue Gegebenheiten wird erklärt und plausibel gemacht. Im Schlußwort wird festgestellt, dass die Arbeit am Mythos des Nibelungenstoffes in einer neuen Phase der Remythisierung begriffen ist, deren endgültige Form noch ungewiss ist, deren Verlauf jedoch kritisch beobachtet werden sollte. Martin schafft eine beeindruckende Brücke zwischen älterer Philologie und moderner Literaturwissenschaft, einschließlich soziologischer Betrachtungen zur Mythenbildung und Ideologisierung der letzten 200 Jahre.