Franzosen und Russen
Linien eines kulturellen Dialogs






Linien eines kulturellen Dialogs
Erzählungen des russischen Symbolismus
Die Entfaltung der Individualität ist der Fokus, der die Geschichte der Moderne bestimmt. Dass die Befreiung des Menschen auch in einer spannungsvollen Auseinandersetzung des Einzelnen mit der sozialen Gemeinschaft erfolgt, gehört zu den «ewigen» Fragen im Denken der Neuzeit. Gegenwärtig sind durch den Zusammenbruch des Realsozialismus und der sozialistischen Großutopien Ideen von Gemeinschaftlichkeit weitgehend diskreditiert, wohingegen sich neoliberalistische Gesellschaftskonzepte durchzusetzen scheinen. Doch lebenspraktische Bedürfnisse, die durch theoretische Reflexion gestützt werden, stehen diesem Trend entgegen. Die Beiträger des Bandes versuchen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Disziplinen und Literaturen ein solches Bemühen um tragfähige Formen von Gemeinschaft nachzuzeichnen und zu analysieren.
Warum stößt Feminismus in Russland auf Ablehnung? Warum dominieren in der russischen Literatur noch immer traditionelle Geschlechterbilder? Der Band geht diesen Fragen nach. Der Umgang mit Genderfragen wird als Teil des russischen Kulturtextes betrachtet, der sich aus nationalen Traditionen und «Übersetzungen» aus dem Denk- und Bildarsenal der westeuropäischen Moderne speist. Konventionelle Muttermythen sind ebenso unverkennbar wie die Idee der «neuen Frau». Der kulturgeschichtliche Bogen der Einzelstudien wird von der Aufklärung (Frauenbildung im Smolnyj-Institut) bis zur Literatur der postsowjetischen Gegenwart gespannt.
In "Bad Saarow und Maxim Gorki" untersucht Christa Ebert die Verbindung des russischen Schriftstellers zu dem Heilbad Saarow während seines Aufenthalts 1922/23. Sie beleuchtet die Orte, die mit Gorkis Zeit dort verknüpft sind, und verknüpft dies mit der russischen Immigrantenszene in Berlin.
Das gegenwärtige Rußland befindet sich auf der Suche nach einer neuen Selbstverortung zwischen nationaler Tradition und europäischer Moderne. Traditionsbruch und Traditionsnostalgie scheinen sich zu durchdringen; der Wertewechsel wird als Befreiung begrüßt oder als Verlust beklagt. Welche Rolle spielt dabei das Thema der Individualität, das im europäischen Diskurs der Moderne einen wichtigen Gradmesser für Modernisierungsfortschritt liefert? Die Beiträge des Bandes untersuchen an ausgewählten Materialien die Vorstellungen von Individualität in den verschiedenen Epochen der russischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert. Eine zentrale Rolle spielen autobiographische Genres, der Bogen wird hier von Derz¡avin, Karamzin, Lev Tolstoj bis zur kritischen Reflexion im Strukturalismus des 20. Jahrhunderts geschlagen, einbezogen werden aber auch literarische Texte (von Pus¡kin bis Prigov) sowie philosophische und literaturkritische Diskurse, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verhandeln.