Wie gelangt Nichtwissen im 18. Jahrhundert zu diskursiver Präsenz? Es ist die Aufklärung als Avantgarde moderner Wissenskulturen, die das Problem der finis cognitionis - der bestimmbaren Grenze sowohl wie des unvermittelten Endes des Wissens - thematisiert, die zugleich aber vom scheinbar nicht diskursfähigen Nichtwissen bestimmt wird. Widersprüche, Ambivalenzen und Amphibolien sind Spuren dieser Doppelpräsenz des Nichtwissens.
Das Wezel-Jahrbuch 12/13 ist ein Themenheft, das den Bedeutungszuwachs narrativer Vermittlungstechniken in der Spätaufklärung, Weimarer Klassik und Frühromantik untersucht. Der textnahe Blick auf Erzählverfahren stellt Kontextbezüge zu den ideen- und diskursgeschichtlichen Umbrüchen um 1800 her. Die Beiträge thematisieren, wie sich 'narrative Anarchie' unter den Bedingungen diskursiver Renormierung in literarischen Texten zwischen 1770 und 1810 neu konstituiert. Dabei wird das prekäre Verhältnis zwischen methodenbezogener Anleitung zum Selbstdenken und der normativen Suche nach wahrer Erkenntnis in literarischen Formen beleuchtet. Der Umgang mit der spätaufklärerischen Krise des Wahren und Guten, sowie den Erfahrungen von Kontingenz und Normenverlust, steht im Fokus. Die narrativen Transformationsphasen am Beginn der Moderne bieten wichtige Einblicke in diese bis heute relevanten Probleme. Die neuen Formen narrativ erzeugter Mehrdeutigkeit sind oft Teil der literarischen Suche nach einem Mittelweg jenseits von Dekonstruktion oder Dogmatisierung fester Normen. Zu den Themen gehören unter anderem die anthropologischen Narrative um 1800, literarische Mehrdeutigkeit in Goethes Werther, Beziehungsmodelle im Umbruch, poetische Mehrdeutigkeit zwischen Aufklärung und Goethezeit, sowie symbolische Deutungen in Goethes Wahlverwandtschaften und E. T. A. Hoffmanns Klein Zaches.
Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert
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»Die Aufklärung zieht gegen Täuschung und Vorurtheil zu Felde.« Was der Prediger und Publizist Andreas Riem 1788 lakonisch behauptet, scheint den Konsens auch der heutigen Aufklärungsforschung zu beschreiben: Die Entdeckung und Zerstörung der Vorurteile habe im Interesse aller Aufklärer gelegen. Zur Gegenaufklärung wird gerechnet, wer sich für Vorurteile ausspricht oder über Wege des Umgangs mit ihnen nachdenkt. Die Studie zeigt, dass es eine Verkürzung des aufklärerischen Diskurses wäre, betrachtete man das Vorurteil nur als Objekt der Aufklärung, als einen der von ihr anvisierten Angriffspunkte. Der Vorurteilsdiskurs wird vielmehr zum entscheidenden Modus aufklärerischer Selbstbefragung, der Selbstaufklärung der Aufklärung. Im literarischen und popularphilosophischen Nachdenken über das Vorurteil werden anthropologiebasierte Argumente wirksam. Sie erschüttern die rationale Gewissheit, mit der Vorurteile kritisiert und durch Wahrheit ersetzt werden sollten. Fragen nach der Funktion von Vorurteilen und nach Wegen, mit ihnen umzugehen, ersetzen die systemphilosophischen Fragen nach Begriff und Typologie. Anhand eines breiten Spektrums deutscher und europäischer Quellen zeigt der Verfasser, dass es dem Vorurteilsdiskurs des 18. Jahrhunderts mittels literarischer und paraliterarischer Formen gelingt, Aufklärung als selbstreflexive Urteilsbildung neu zu bestimmen.