Das Verstummen der Götter und die Erfindung des europäischen Denkens
Entwurf einer psychoanalytischen Mentalitätsgeschichte






Entwurf einer psychoanalytischen Mentalitätsgeschichte
Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt
Die Zeitspanne zwischen der Formulierung einer Theorie und ihrer Akzeptanz ist umso größer, je mehr sie an weltanschaulicher Korrektur abverlangt. Rund 80 Jahre vergingen, bis Darwins Evolutionstheorie anerkannt wurde, und Freuds kulturtheoretischer Entwurf wartet 90 Jahre nach 'Totem und Tabu' weiterhin auf eine Wiederaneignung. Sein kühner Vorstoß in die Frage, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält, stieß bei Psychoanalytikern meist auf Ablehnung. Diese entfremdeten sich von seinem Text, der schließlich nur noch als exotischer Tagtraum wahrgenommen wurde, den es zu entschlüsseln galt. Dennoch fand 'Totem und Tabu' in anderen Humanwissenschaften Resonanz, was bestimmten Theorielinien, wie der Verbindung zu Ritual- und Opfertheorien, neue Prägnanz verlieh. Das Ärgernis bleibt, dass kulturelle Entwicklungen nach Freuds kultureller Synthese oft auf Akten der Gewalt zurückzuführen sind, auch wenn diese Gewalt transformierbar ist. In den letzten Jahrzehnten wurde viel über Transformationsprozesse in der Psychoanalyse geschrieben. Die in diesem Buch enthaltenen Arbeiten rekonstruieren 'Totem und Tabu' und verbinden Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Psychoanalyse. In einer Zeit, in der die biologische Wissenschaft die Conditio humana reformieren möchte, ist eine Rückbesinnung auf die kulturelle Dimension des Menschen und deren Gesetzmäßigkeiten unerlässlich.
»Freuds Totem und Tabu gehört zu jenen Büchern, die alt werden müssen, um in ihrer Radikalität erkannt zu werden. Wenn wir heute von einem Buch sagen, es sei radikal, so meinen wir, daß es wichtige Probleme unserer Gegenwart in ein klares und scharfes Licht taucht.« Mario Erdheim Freuds Kulturauffassung, die er zeit seines Lebens vertrat, lässt sich als maßgeblichen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des Opferrituals ansehen. 100 Jahre nach Erscheinen von Totem und Tabu ist dieses Buch immer noch Gegenstand heftiger und fruchtbarer Kontroversen. Gerade in den Humanwissenschaften hat das Thema »Ritual« erneut besondere Aktualität gewonnen. Die Debatte wird im vorliegenden Band von Kulturwissenschaftlern verschiedener Disziplinen fortgeführt und um erstmals ins Deutsche übersetzte Texte ergänzt. Die hier versammelten Aufsätze sind den zentrifugalen Kräften des Spezialistentums entgegengerichtet und haben das Potenzial zu einer Theoriesynthese. Mit Beiträgen von Elizabeth Bott Spillius, Ulrike Brunotte, Paula Elkisch, Robin Fox, René Girard, Eberhard Th. Haas, Alfred L. Kroeber, Cyril Levitt, Margaret Mead, Wolfgang Palaver, Uwe C. Steiner und Herbert Will
»Haas erinnert facettenreich und eindringlich an die schlechte Nachricht, die Freud der Menschheit ins Stammbuch schrieb.« International Journal of Psychoanalysis Am Anfang von Kultur steht kein auf Vernunft gegründeter Gesellschaftsvertrag, sondern Gewalt. Diese kann sich jedoch transformieren und Schöpferisches hervorbringen. Im Zentrum des Buches steht eine tragische Figur, der Sündenbock, der in paradoxer Weise zum Friedensstifter und Heilsbringer erhoben werden kann. So schaffen sich Kulturen ihr Wertvollstes: Kunst, Ritual, Religion und Moral. Der Autor führt Freuds in Totem und Tabu unternommene und immer noch kontrovers diskutierte Synthese fort, verbindet sie mit neueren kulturtheoretischen Ansätzen und integriert die kulturstiftende Arbeit der Trauer. Zu den Gewaltverhängnissen der Menschen und deren Transformation scheint es keinen anderen Zugang zu geben.
Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung
Die wissenschaftlichen Revolutionen, verbunden mit den Namen Kopernikus und Darwin, enthalten eine metaphysische Sprengkraft, die immer nachhaltiger in die privateste Sphäre eingedrungen ist. Die Rede vom 'Tod Gottes' ist keineswegs nur eine akademische Frage. Die Emanzipation aus religiöser Bevormundung wird heute zunehmend infrage gestellt, denn mit ihr ging ein kollektive und individuelle Gewalterfahrungen transformierender Behälter verloren. Der Prozess der Säkularisierung enthält eine Dialektik, deren Schattenseite zunehmend gespürt und als Psychopathologie erlitten wird. Dieser Transzendenzverlust steht in Verbindung mit Depressionen und Süchten. Früher war Wissen um Lebenstatsachen in der Sprache der Religion aufbewahrt; heute begreift man, dass deren Gehalt – wir zehren immer noch davon – nicht schadlos suspendiert werden darf. Man hat begonnen, dieses Wissen in eine nichtreligiöse Sprache zu übersetzen. Dieser Aufgabe widmet sich auch dieses Buch, eingebunden in eine kohärente Kulturtheorie und mithilfe der Sprache der Psychoanalyse, die dafür die reichhaltigste Semantik besitzt.