In Brussels, tens of thousands are defining regulations for five hundred million. Civil servants, lob by ists, representatives, assistants, politicians, interns. They negotiate seventy percent of our laws, but we do not know their faces. For one year, Martin Leidenfrost explored Europe’s capital and wrote fifty personal – tender, alienated, mischievous – portraits. When he could not bear the Eurocrats, Leidenfrost escaped: to the African neighbourhood, to the Finnish sauna, to the Brussels window prostitutes and even to their Bulgarian hometown. He visited an Albanian drug dealer and discovered the happiest man in the world: a tobacco lobbyist. He follows every hint, perseveres, does not want to give up until an issue opens up well and truly. At the same time Martin Leidenfrost’s stories are always entertaining – and time and again they show us a different side of the Eurocrats.
Martin Leidenfrost Livres






Die Tote im Fluss
Der ungeklärte Fall Denisa S.
„ES BEGANN ALLES DAMIT, dass ich als Österreicher, der in der Slowakei lebt, von einer Slowakin las, die man in Österreich fand, in einem Fluss. Die Tote war nackt.“ Denisa Šoltísová wurde zuletzt lebend gesehen, als sie in der Nacht vom 19. Jänner 2008 durch eine österreichische Bezirksstadt irrte, in Unterwäsche und ohne Schuhe. Tage später fand man sie, tot und nackt. Sie war 29 Jahre, Hochschulabsolventin, sie war Slowakin und eine 24-Stunden-Pflegekraft. Die Polizei schloss den Fall ab: „Selbstmord“. Doch die in der Slowakei durchgeführte Obduktion ergab Spuren von Gewaltanwendung. Es sind 700 Kilometer von Ratkovská Lehota, wo Denisa lebte, bis zu dem Ort, an dem sie ihr Leben ließ. 700 Kilometer, die zwei Welten voneinander trennen, zwischen denen ständig Kleinbusse pendeln, gefüllt mit Pflegerinnen. Zwei Welten, in denen Martin Leidenfrost den Spuren einer von ihnen nachgegangen ist, die nicht wieder zurückkehren wird, hinter die Grenze.
Verstört vom Krieg in der Ukraine erforscht Martin Leidenfrost alle nennenswerten Separatismen Europas, die entfesselten und die schlummernden. Und er begibt sich auf eine exzessive Rundfahrt, auf eine ergebnisoffene Suche nach Ideen, Irrwitzen, Inspirationen, nach einer Seele Europas. Leidenfrost folgt den Spuren euthanasierter belgischer Transsexueller und durch Selbstverbrennung gestorbener Bulgaren. Er stößt auf den letzten Kämpfer für Demokratie in Liechtenstein und auf einen kriegserfahrenen Kosaken in Transnistrien. Wenn Pakistaner in Glasgow slowakische Romni heiraten und wenn serbische Hochlandbauern für albanische Bräute brennen, dann merkt er auf und folgt ihren Wegen. Den vollkommensten Europäer findet er in einem Straßengraben bei Marseille. Und zu Hause im Plattenbau findet er die Liebe. Die mehrfach ausgezeichneten Reportagen erschienen in sehr unterschiedlichen Zeitungen, darunter »neues Deutschland«, »Die Presse« und »Südostschweiz«. »Expedition Europa« ist eine erste Auswahl dieser konzentrierten, persönlichen Kurzreportagen. »Die fehlende europäische Öffentlichkeit kann ich nicht herstellen, aber eine gedankliche Brücke zwischen dem einen oder anderen Winkel Europas zu bauen – das könnte gelingen.« Martin Leidenfrost
Mehr als fünfzigtausend Menschen feilen in Brüssel an Regeln für fünfhundert Millionen. Beamte, Lobbyisten, Repräsentanten, Assistenten, Politiker, Praktikanten. Sie handeln siebzig Prozent unserer Gesetze aus, aber wir kennen ihre Gesichter nicht. Wenn sich nun einer diese Leute ansähe? Wenn einer durch Brüssel flanierte, durch Hintertüren spazierte, die Feen und Heinzelmännchen der Europablase studierte? Wenn einer ihre Stile, Affären und Ausdrucksformen beobachtete, neue europäische Einheitszüge ausmachte und verbliebene nationale Intimpartien beschriebe? Martin Leidenfrost hat das getan. Er zog ein Jahr lang durch die europäische Hauptstadt, nomadisierte durch fünfundzwanzig verschiedene Schlafstätten, schrieb fünfzig persönliche – zärtliche, befremdete, bösartige – Porträts. Wenn er die Eurokraten nicht erträgt, dann flieht er. Er geht zu einem albanischen Dealer, taucht in der afrikanischen Nachbarschaft unter, folgt der Spur der Brüsseler Schaufenster-Huren bis an ihren bulgarischen Heimatort. Immer wieder kämpft er sich in die Europablase zurück. Er tändelt, er freundet sich mit einem unglücklichen polnischen Eurokraten an, ergründet das Erfolgsgeheimnis der Homosexuellen-Lobby und entdeckt in einem Tabaklobbyisten den glücklichsten Menschen der Welt. Am Ende kann er bestätigen: Eurokraten sind langweilig. Leidenfrosts Reportagen aber keineswegs.
Lesereise Graubünden
Bündner Wirren
Alle haben von St. Moritz und Davos gehört, viele von der steinalten Stadt Chur, von der senkrechten Viamala-Schlucht, von Nietzsches Zufluchtsort Sils Maria, und Skifahrer kennen vielleicht Arosa Lenzerheide, Flims Laax, Silvaplana. Graubünden bietet aber auch abseits der touristischen Premium-Marken so manchen Rekord auf. Wer weiß schon, dass die drei kantonalen Amtssprachen Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch, die sich ihrerseits in Dutzende Idiome und Dialekte unterteilen, dieses Hochgebirgsland zu einer der buntscheckigsten Regionen Europas machen? Dass man hier und nur hier die einzige Dreifach-Wasserscheide Europas findet? Dass einen durchaus schon mal das Gefühl beschleicht, auf dem »Dach Europas« zu stehen? Europareporter Martin Leidenfrost sucht nicht immer den Glamour von »Effortless Living on Top of the World«. Seine Genussfahrt verhakt sich oft in den Wirrungen der Bündner Diversität. Was 1838 geschrieben wurde, stimmt immer noch: »Der Wanderer, der diesen Irrgarten durchläuft, tritt, so oft er seinen Fuß in ein neues Thal setzt, in die Mitte eines anderen Völkleins.« Bündner Wirren, das sind weltferne Rätoromanen und betonierwütige Walser, ein demokratischer Adel und eine protestantische Italianitá, ein brummendes Chemiewerk und Alpinwüsten von kaukasischer Anmutung. Bündner Wirren, das sind Hundefresser und Kuhwürger, Bären und Wölfe, Wein und Schnee.