Michèle Najlis geht einen besonderen poetischen Weg. Altehrwürdige christliche Wortlaute sind der Ausgangspunkt dieser eindrucksvollen Lyrik. Dem poetischen Ton bleibt die rituelle Alltagssprache anhaften. Die Gedichte werden zum Ort der Bewusstmachung. Sie schaffen Raum zum Weiterdenken anhand Jahrtausende alter Überlieferungen. Für unsere - sattsam mitteleuropäisch genannten - Begriffe weist Najli's Lyrik im Aussageton Schwung auf. Die Ausdrucksfülle ist ein Teil der Vielfältigkeit. Ihre Motivbestimmung und Themenwahl, ihre Bilder und der polychrome Wortschatz verleihen den Gedichten das homogene Gepräge. (Janko Ferk)
Michèle Najlis Livres


Tochter des Windes
Gedichte Spanisch-Deutsch
Ein Band kurzer und kürzester Gedichte einer Frau aus Nicaragua, die niemals daran dachte, sich entscheiden zu müssen zwischen ihrer Bildungsarbeit, der Betreuung vieler Sozialprojekte und ihrer dichterischen Existenz. Nicht nur um das große Mysterium von Leben und Tod geht es, sondern auch um die konkrete Not, an der wir betroffen und erschüttert vorbeileben. Nicht nur um die Lehre vom Schönen ist es zu tun, sondern auch um ein Standhalten vor dem Schrecklichen, dem Trostreichen, das ihm und uns innewohnt. Vieles in der Poesie Nicaraguas, besonders der der Frauen, ist Ausdruck einer klaren Sicht dieser Realität, eines desencanto, einer Entzauberung, die den Fluchtweg in himmlische, weltferne Sphären versperrt, aber auch einer tiefen Sehnsucht nach Hoffnung gebenden, gültigen Grundlagen einer alle Kulturen tragenden mystischen Gemeinsamkeit alles Menschlichen, die sie zur Sprache bringt. Eine Frage des Lebens und des Überlebens in Würde. Michèle Najlis, die Tochter jüdischer Flüchtlinge aus Mitteleuropa, greift uns vertraute poetische Stilmittel ebenso auf wie die der Mystik des großen persischen Sufidichters Dschalal ad-Din ar-Rumi aus dem 13. Jahrhundert. Eine große, allen Menschen und religiösen Ausdrucksformen zugrundeliegende gemeinsame Tiefe wäre ihr Anliegen, möchte man sagen, stünde dem nicht die große, aber auch kleinmütige Einsamkeit eines jeden von uns entgegen, die wir kaum auszuhalten gewillt sind. Diese Lyrik will Erinnerung an eine Klugheit sein, die sich dem Anderen öffnet. Ein frischer Wind fährt durch Althergebrachtes, legt Unerwartetes frei, auch längst Vergessenes, das ausgesetzt ist allen Unwettern, dem Himmel, a la intemperie, wie der ursprüngliche Titel dieser Sammlung von Gedichten gelautet hat.