Paul J. Möbius Livres






Selten wird die Bedeutung krankhafter Geisteszustande genugend erkannt. Mangel an Kenntnissen einerseits, Befangenheit in Vorurteilen andererseits haben die richtige Beurteilung der vom Gewohnlichen abweichenden Geistesbeschaffenheit in der Regel unmoglich gemacht, und es ist gar nicht zu sagen, wieviel Thorheit und Unheil im laufe der Zeiten durch unpassende Verwendung juristischer, moralischer, theologischer Kategorien an Stelle naturwissenschaftlicher oder arztlicher entstanden ist. Kurz kann man also sagen: Krankhafte Geisteszustande sind im wirklichen Leben von der grossten Bedeutung, sie mussen es daher auch in dem Bilde des Lebens, in der poetischen Schilderung sein. Dieser von vornherein auffallende Satz wird durch die Betrachtung der Werke des Dichters, dem man gern einen besonderen Sinn fur die Wirklichkeit zuschreibt, namlich Goethes durchaus bestatigt. Dieses Buch uber Goethe stellt Goethe uber das Pathologische, sowie das Pathologische in Goethe dar und ist ein unveranderter, hochwertiger Nachdruck der Originalausgabe aus dem Jahr 1903. Der Verlag der Wissenschaften verlegt historische Literatur bekannter und unbekannter wissenschaftlicher Autoren. Dem interessierten Leser werden so teilweise langst nicht mehr verlegte Werke wieder zugangig gemacht.
Paul Julius Möbius (1853–1907) war Neurologe, Psychiater und Wissenschaftspublizist. Der von Freud als „Vater der Psychotherapie“ titulierte Autor widmet sich in diesem Werk Formen von Irrungen und Geisteskrankheiten in den Werken Goethes unter wissenschaftlichen Aspekten. Neben der Definition krankhafter Geisteszustände erklärt Möbius die Bedeutung dieser Zustände für die Betroffenen. Einen großen Teil der Untersuchung nimmt die Frage ein, wie Goethes Umgang mit Geisteskranken war, wie er mit ihnen zu Studienzwecken Kontakt aufnahm und wie seine Einstellung gegenüber damaliger Zustände in den „Irrenanstalten“ und „Tollhäusern“ war. Nebenbei erfährt der Leser viel über den Umgang mit Kranken zu Goethes Zeiten in dem Kapitel „Über das Irrenwesen in Frankfurt a. M. und im Herzogthume Weimar am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts“ Zum Ende untersucht der Autor Goethes Figuren auf ihre pathologischen Eigenschaften und erklärt den Unterschied zwischen dichterischer und wissenschaftlicher Auffassung verschiedener Krankheitsformen. Unter der Lupe des Autors stehen Protagonisten wie Werther, Fraust, Iphigenie, Tasso oder Wilhelm Meister. Vorliegende Ausgabe ist ein originalgetreuer Nachdruck der Ausgabe in Frakturschrift von 1898.