Hans-Peter Schultze Livres






Reise an die Küste
Eine Hommage für Gabriel Garcia Marquez von Tomas Gonzalez sowie 45 weitere Erzählungen kolumbianischer Autoren und Autorinnen
Diese Sammlung kolumbianischer Erzäh-lungen ist keine Anthologie im herkömm-lichen Sinne, sondern eine sehr persön-liche Auswahl des Herausgebers, in der er Perlen aus seinen vergriffenen Büchernmit neuen Fundstücken vereint. So ent-steht ein ungeheuer lebendiges und spannendes Bild der Literatur eines Lan-des, in dem es zwar einen höchsten Berg,aber um ihn herum viele hohe Gipfel gibt. Wir sehen, dass die kolumbianische Erzählkunst, ja, selbst der magische Realismus nicht erst mit García Márquez begann, und wir können verfolgen, wie den jüngeren Schriftstellergenerationen das Vorbild des Nobelpreisträgers ein Ansporn war, nicht um ihn zu imitieren, sondern um neue Wege zu suchen, zum Beispiel in der Entdeckung der Stadt als literarischen Ort. Die lange Erzählung 'Reise an die Küste' ist das Herzstück dieses Buchs und hat in vieler Hinsicht mit Gabriel García Márquez zu tun. Einmal weil der Nobelpreisträger an derselben Krankheit leidet wie der Protagonist Don Rafael. Zum anderen weil uns Don Rafaels Zug in genau die tropische Welt führt, aus der García Márquez stammt und in der seine Werke spielen. Und schliesslich weil Tomás González' Erzählung eine Weiterentwicklung des magischen Realismus ist im Sinne einer Verweltlichung und 'Verhäuslichung' oder Verinnerlichung, ein Bruch mit ihm und zugleich eine Hommage für seinen Meister.
In diesem Buch erinnert sich Gabriel García Márquez an das Drama eines Lebensmüden, der aus einem Hochhaus springt und auf dem Weg nach unten die kleinen Tragödien und flüchtigen Glücksmomente seiner Nachbarn beobachtet. Während er fällt, verändert sich seine Sicht auf das Leben, und er erkennt, dass das Leben, das er verlässt, lebenswert ist. Diese Erzählung erscheint wie eine Parabel für Kolumbien, ein Land, das auf seinen Untergang zusteuert und dabei seine künstlerische und menschliche Vielfalt entfaltet. Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der Kolumbien seit fünf Jahrzehnten liebt, versucht, das kolumbianische Drama – die Verlorenheit der Menschen, ihre materielle Not und die damit verbundene Gewalt – anhand von drei Schlüsselthemen zu deuten: Entwurzelung, Gewalt und die Einsamkeit der Frau. Entwurzelung beschreibt den Verlust des traditionellen Lebensraums, den Millionen Kolumbianer durch Vertreibung und wirtschaftliche Abwanderung erfahren. Diese Entwurzelung führt zur Gewalt, die als tägliche Erscheinung akzeptiert wird. Gewalt ist jedoch der falsche Ausbruch aus der Einsamkeit, besonders für Frauen, deren Situation eindrucksvoll zeigt, dass die Heilung Kolumbiens mit ihrer Befreiung beginnt. Das Buch kann als Ergänzung zu einem Standardwerk der kolumbianischen Erzählkunst betrachtet werden.
