Die Texte des Buches basieren auf einfachen Bildern und Farben, die neu kombiniert werden. Sie thematisieren Anpassung, Widerstand, den Weg zu sich selbst und zum Anderen sowie Emotionen wie Liebe, Enttäuschung und Hoffnung. Letztlich wollen sie „weiße Ware“, ein einfaches Gebrauchsgut, darstellen.
Christoph Klesse Livres






Diese Aufzeichnungen, niedergelegt in einem Notizbuch, einem Poesiealbum und zwei Ringbüchern, nannte der Verfasser, mein verstorbener Großvater, sein „Buch“. Sie umspannen einen Zeitraum von siebzehn Jahren und stellen eine chronologische Mischung aus Tagebuch, Kopfkissenbuch und Poesiealbum dar. Ich habe dieses „Buch“ im Nachlass meiner Großmutter, die meinen Großvater überlebte, gefunden. Die Einträge sind durchnummeriert. Eine Reihe von Einträgen fehlt. Ich nehme an, dass mein Großvater, vielleicht auch meine Großmutter, die entsprechenden Seiten aus unterschiedlichen Gründen vernichtet haben. Ich habe lange überlegt, ob ich die Texte nicht komplett entsorgen sollte, habe mich aber doch dagegen entschieden. Mein Großvater hätte sie sicher selbst vernichtet, wenn er nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass seine Kinder und Enkelkinder in diesem Buch blättern. Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität. Sie zeigen aber eine deutliche Entwicklung vom pubertierenden Sechszehnjährigen zum erwachsenen Mann. Sie belegen eine schrittweise Emanzipation von starren religiösen und gesellschaftlichen Konventionen, ein Reifen der Liebesfähigkeit und ein Überwinden persönlicher Fehlhaltungen. Zusammenfassend möchte ich sagen: Mein Großvater hat es sich nicht leicht gemacht, aber er war lernfähig. Die Träume sind abgeflogen wie Papiervögel über ein ab-geerntetes Feld. Der Sommer ist vorbei. Einen Augenblick lang waren meine Augen verschlossen. Jetzt trete ich aus mir hervor, unsicher, die Augen noch einmal geblendet und ganz von einem neuen Geruch erfüllt. Der Sommer ist über die abgeernteten Felder fortgeflogen und hier bin ich. Und ich erwache. Die Dinge nehmen ihren festen Platz ein, und ich beginne mit alten Worten diesen neuen Tag zu besprechen. Meine leeren Hände sind überzogen von alten Linien. Das Haus ist still bis in den letzten Winkel. In welcher Sprache soll ich zu dir sprechen, dich erreichen, fesseln? "
Susanne und Stefan, Mitglieder der studentischen Organisation NEXUS, finden Gefallen aneinander. Freunde bringen sie schließlich zusammen. Susanne will sich aber keinem Mann unterordnen. Stefan erfindet für sie einen geheimen Kreis innerhalb des NEXUS. Wer diesem Kreis angehören möchte, muss sich einem Training seiner sinnlichen „Kompetenzen“ unterziehen. Im Zuge ihrer „Ausbildung“ steigert sich Susannes Wahrnehmen und Empfinden. Stefan inszeniert schließlich eine theoretische und praktische Aufnahmeprüfung in den inneren NEXUS als nächtliches Happening. Danach ist er erschöpft. Auch muss er sich dringend um sein Studium kümmern. Susanne fühlt sich daraufhin vernachlässigt und bricht die Beziehung ab. „Er saß ihr gegenüber, die Hände vor der Brust verschränkt, hielt seine Arme schützend vor die Liebe. Die Liebe, die er im Arm hielt war ein kleines verletzliches Tier, ähnlich einem mageren Lamm, aber nur halb so groß, ohne Fell, schutz- und wehrlos. Susanne bedrohte das unschuldige Wesen mit einem Messer. Stefan versuchte, es zu schützen, wehrte das Messer zunächst ab. Vergeblich! Er konnte nicht verhindern, dass Susanne dem armen Ding die Klinge in den Leib stieß. Blut spritzte. Stefan versuchte vergeblich, die Blutung zu stillen. Das gequälte Tier zitterte, seine Augen brachen. Es schloss sie für immer und Stefan kehrte in die Gegenwart zurück. Er schaute Susanne verständnislos an. Warum hatte sie die Liebe getötet?“ Es gelingt Susanne und Stefan nicht, sich wieder zu versöhnen. Einen Rest Misstrauen können sie nicht ablegen. Schließlich akzeptieren beide, dass ihre Liebe in der Gegenwart misslungen und verspielt ist. Im Scherz setzen sie einen Vertrag auf, in dem sie vereinbaren, in vierzig Jahren noch einmal zusammen zukommen, was auch immer ihre Lebensumstände dann sein werden.
Robert ist gerade 10 Jahre alt. Da hat er einen Anfall von Hellsichtigkeit. Die 4jährige Annemarie, die er beim Spielen im Sandkasten beobachtet, wird ihm als Mutter seiner zukünftigen Kinder „offenbart“. Sie erscheint ihm aber viel zu jung. Da taucht die im Alter zu ihm passende Evelyn auf, die ihn nach einem Kuss als ihren Bräutigam betrachtet. Kurz darauf tauscht R. versehentlich auch mit A. einen Kuss, die ihn daraufhin ebenfalls als ihren zukünftigen Ehemann reklamiert. E. und R. sind drei Sommer lang miteinander befreundet. Als ihre Sexualität erwacht und bedrängt, trennen sie sich einvernehmlich mit dem Versprechen, ihre Beziehung fortzusetzen, wenn die Zeit für die Tanzstunde gekommen ist. Beide erinnern sich rechtzeitig an ihr Versprechen. Sie finden wieder zusammen. In den folgenden Jahren wird ihre Liebe nicht nur einmal in Frage gestellt, setzt sich aber am Ende durch. Ein befreundeter Pater, seit ihrer Kindheit ihr geistlicher Mentor, traut sie heimlich. Nach weiteren Komplikationen, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Das Paar steht kurz vor der standesamtlichen Hochzeit. Da wird E. Opfer eines mysteriösen Unfalls. R. spürt, dass sie in Lebensgefahr schwebt. Plötzlich steht die Welt auf dem Kopf. Die Personen, die E. und R. am nächsten stehen, verwandeln sich in ihre unerbittlichsten Feinde. R. kämpft für die Liebe, doch er hat keine Chance. In einem Netz aus Eitelkeit, Täuschung und Lüge geht sie verloren. Dabei spielt der Vater von R., der sich von E. angezogen fühlt, eine Schlüsselrolle. Jahre später, R. ist inzwischen mit A. verheiratet, erscheint E. gänzlich unerwartet in seiner Welt, und das nicht nur einmal. Schließlich begibt sich R. auf die Suche nach ihr. Seine Mutter, seine Frau und die Schwester von E. behaupten, seine Erinnerungen an E. seien größtenteils Einbildungen oder Wunschträume. Die E., die R. im Verlauf seiner Suche findet, hat keine Ähnlichkeit mit der E. seiner Jugend. Was war wirklich? Was ist wirklich?
Im Herbst seines Lebens unternimmt der Physiker Wolfgang den Versuch, eine Liebesbeziehung, die er als Student durchlebt und durchlitten hat, zu erinnern. Dabei muss er erkennen, dass seine Erinnerungen nicht nur unvollständig und fehlerhaft sind, sondern dass er bestimmte Erinnerungen bewusst manipuliert hat. „Ich will ein Gedächtnis haben, angefüllt mit den richtigen Erinnerungen. Dass ich es besser machen kann, das will ich glauben. Und dabei ziehe ich den kürzeren, indem ich es besser mache.“ Im Zuge des dreimal mit unterschiedlichem Ergebnis wiederholten Versuchs, die Vergangenheit zu rekonstruieren, bevor sie gänzlich vergessen ist, gewinnt er eine verlorene Erinnerung zurück. Sie und eine zufällige Begegnung führen zu einem neuen Anfang. „Es ist leicht, die Liebe zu töten, aber totzukriegen ist sie nicht.“
Die Texte in diesem Buch sind entstanden zwischen 1967 und 2012. Viele sind aus Tagebucheinträgen hervorgegangen. Sie gründen auf einfachen Bildern, die immer neu zusammengesetzt werden. Kritisch, selbstkritisch und manchmal zugespitzt handeln sie von Anpassung und Widerstand, vom langen Weg zu sich selbst und zu anderen. Sie sprechen von Liebe, Enttäuschung und Trauer, von Resignation, Hoffnung und Aufbruch. 'Weiße Ware', einfaches Gebrauchsgut – mehr wollen sie nicht darstellen.