Interviews mit traumatisierten Menschen in der Türkei, Südamerika und Ruanda
136pages
5 heures de lecture
Marlene Pfaffenzeller dokumentiert die Erlebnisse von Folteropfern aus der Türkei, Südamerika und Ruanda, die sie in ihrer neurologisch-psychiatrischen und psychoanalytischen Praxis in Berlin kennengelernt hat. Mit fast 30 Jahren Erfahrung in der Behandlung traumatisierter Flüchtlinge setzt sie sich dafür ein, den oft ungehörten Stimmen dieser Menschen Gehör zu verschaffen. Ihr Werk beleuchtet die tiefenpsychologischen Aspekte von Gewalt und Trauma und bietet einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung und Sensibilisierung für die Schicksale der Betroffenen.
Nereng gomez ist ein rituelles Reinigungsmittel aus dem Urin eines gesunden Ochsen, das in der alten zoroastrischen Religion verwendet wurde. Reinigungsrituale sind bis heute in vielen Religionen verbreitet.
Jahrelang lagen die Briefe vergessen in einer flachen Schachtel zwischen verstaubten Büchern. Karl hatte sie nach dem Tod seiner Mutter dort abgestellt. Sie stammten von seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter, der 1942, wenige Monate nach Karls Geburt in Russland gefallen war. Nach der Lektüre der Briefe rekonstruiert Karl die Geschichte seiner Familie, die von der Frage begleitet wird: Wie konnte ein kluger, feinfühliger, dem Leben und der Natur zugewandter Mensch, den Wahnideen des Nationalsozialismus verfallen und diesem Irrsinn sein junges Leben opfern.
AuszugDie Glut der Mittagshitze war kaum zu ertragen, die Sonne brannte vom Himmel, der sich in einem fast unwirklichen Stahlblau über der spanischen Küste ausbreitete. Die Luft flimmerte. Es schien, als wolle sich auch die Zeit nicht bewegen. Alonso hatte nur wenige Schritte in dem Garten des Klinikgeländes zurück gelegt. Er blieb stehen und wischte den Schweiß aus dem Gesicht, vergeblich hielt er Ausschau nach einem schattigen Platz. Ein heftiger Schmerz durchzog sein rechtes Bein. Er atmete tief und kehrte in sein Krankenzimmer zurück. Die Kühle des Zimmers war wohltuend, Er legte sich auf sein Bett und versuchte, an nichts zu denken. Er schloss die Augen und sofort mischten sich die Erinnerungen in seinem Kopf und suchten ihren eigenen Weg. Langsam setzte er sich auf und betrachtete sein Spiegelbild. Schwach drang das Sonnenlicht durch die zugezogenen Vorhänge und ließ seine Gesichtszüge weich erscheinen. Sein Blick wanderte von dem eigenen Bild zu einem Foto, das in kleinen Rahmen neben dem Spiegel aufgestellt war. Zehn Jahre hatten sich die Gesichter auf den Fotos nicht verändert. Es schlich sich ein eigenartiges Gefühl bei ihm ein. Er war alt geworden. In den vergangenen Jahrzehnten waren ihm kaum Veränderungen bewusst geworden.. Durch den Tanz, der sein Beruf war, ist sein Körper immer in Bewegung gewesen. Vor einem Monat war ganz plötzlich der Schmerz da , etwas war in ihm gerissen. Seit zwei Wochen befand er sich in dieser Spezialklinik, die für einen enormen Preis die beste Behandlung versprach. Der Chefarzt hatte ihn nach gründlicher Untersuchung lange besorgt angesehen. „Die Verletzung ist kompliziert und in ihrem Alter ist die Prognose nicht günstig.“ Alonso bewegte sein rechtes Bein, der Schmerz bohrte sich in das Gelenk und mit dem Schmerz drängten sich die Worte des Chefarztes in sein Gehirn. Würde er jemals wieder tanzen können? Er versuchte die Gedanken zu vertreiben. Sein Blick fiel erneut auf das Foto. Die Aufnahme war wenige Monate vor Luisas Tod gemacht worden. Er betrachtete die Gesichtszüge seiner Mutter mit einem Gefühl von Zärtlichkeit. Neben ihrem alten Gesicht war das junge Gesicht Anahitas zu sehen. Ihre großen Augen mit der eigentümlichen braun-grünen Farbe schienen ihn an und gleichzeitig durch ihn durch zu sehen.
„Es ist heute das erste Mal, dass ich über meine Erlebnisse zusammenhängend gesprochen habe …“ Marlene Pfaffenzeller hat Opfer von Folter und Misshandlungen in der Türkei, Südamerika und Ruanda getroffen und sie von ihren Gewalterfahrungen berichten lassen. Sie knüpft damit an die Arbeit in ihrer neurologisch- psychiatrischen und psychoanalytischen Praxis in Berlin an, in der sie nahezu 30 Jahre lang traumatisierte Flüchtlinge behandelt hat. Ihr Anliegen ist es, jenen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. „Ich habe mich am Tag im Wasser zwischen den Papyrus-Pflanzen versteckt und bin nachts weiter geflohen. Ich bin mit anderen Menschen geflohen und bin dabei oft auf Milizen getroffen, die Granaten geworfen oder mit Gewehren das Feuer eröffnet haben. Einmal konnte ich mich an einer Straßensperre damit herausreden, dass ich meinen Ausweis vergessen habe. Ich bin immer weiter gelaufen und habe viele Tote und Verwundete gesehen. Die Flüchtenden konnten einander nicht helfen. Viele Kinder konnten nicht schnell genug laufen und wurden getötet. Ich habe nicht nachgedacht; wenn hinter mir Menschen getötet wurden, habe ich nur gedacht, es war seine Zeit, wann wird meine Zeit kommen? Ich habe nichts gefühlt, ich war wie ein toter Baum, ein Stück Holz.“