Was geschieht beim Lesen, und gibt es andere Formen der Lektüre als die gängige, linear den Zeilen folgende und scheinbar einzig vernünftige? Von solchen Fragen handelt der erste Teil der vorliegenden Arbeit. Es wird der Versuch unternommen, den meist nur metaphorisch verwendeten Begriff „Aura“ als eine schriftgeschichtlich, wahrnehmungspsychologisch und psychoanalytisch beschreibbare Wirklichkeit zu fassen. Die Aura des Wortes enthält „einen Hof schwach angedeuteter Verwendungen in sich“ (Wittgenstein), einen „Hof von Unbestimmtheit“ (Adorno), in dem „die Geschichte des Wortes“ lebt (Wohlfart). Die „ver-sehende Lektüre“, wie sie hier skizziert wird, taucht in diese, von der linear perspektivischen Leseweise negierten Unbestimmtheitshöfe ein und betreibt auf der Rezeptionsseite, was Günter Eich auf der Produktionsseite als wichtigste Aufgabe des Schriftstellers verstand: die Kritik der gelenkten Sprache. An den „Maulwürfen“, aber auch an etlichen von Eichs Hörspielen und Gedichten, wird im zweiten Teil auf die „versehende Lektüre“ die Probe gemacht und gezeigt, daß diese in Regionen vorzudringen vermag, die bislang Gebiete des „Aus-Satzes“ und als solche unzugänglich waren. Eine Konkordanz und mehrere Register laden dazu ein, eigene Lektüre-Reisen durch die unterirdischen Räume der „Maulwürfe“ anzutreten.
Sigurd Martin Livres


Verschiebebahnhöfe der Erinnerung
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»Die Eisenbahn hatte für Paul eine tiefere Bedeutung. Wahrscheinlich schien es ihm immer, als führe sie in den Tod.« (Die Ausgewanderten, S.90) Die Eisenbahn, Bahnhofsgebäude und andere Monumentalbauten des späten 19. Jahrhunderts zählen zu den wichtigsten Topoi im Werk W. G. Sebalds und werden – ähnlich wie von Walter Benjamin die Passagen – als allegorische Orte genutzt, in denen sich Erfahrungen sowie Erinnerungen der Gegenwart und Vergangenheit überlagern. In den Sprache werdenden Zeit-Räumen wird so die Grenze zwischen Tod und Leben auf eine nahezu selbstverständliche Weise in beiden Richtungen durchlässig.