Laut Immanuel Kant lassen sich alle Fragen der Philosophie auf das Wesen des Menschen zurückführen, welches unser Streben nach Wissen, Gerechtigkeit und seelischer Geborgenheit antreibt. Am Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des neuen Jahrtausends hat diese Frage an Bedeutung gewonnen, was als Zeichen einer Verunsicherung gedeutet werden kann. Der Mensch erscheint fragwürdig, hat seine Konturen verloren und ist entzaubert worden. Künstliche Intelligenz, Gentechnologie und Entdeckungen der Hirnforschung drohen, unser Selbstverständnis und unseren Körper nachhaltig zu verändern. Diese intensive Debatte über die Zukunft des Menschen findet nicht nur in den Feuilletons der Zeitungen statt, sondern ist auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften präsent, wie zahlreiche Konferenzen und Publikationen belegen. Auch in der politischen Theorie wird zunehmend auf anthropologische Argumentationsmuster zurückgegriffen, um die Überlegenheit liberal-demokratischer Regime und die Universalität der Menschenrechte zu rechtfertigen oder um präzise Kriterien für den Beginn und das Ende menschlichen Lebens im Kontext von Euthanasie, liberaler Eugenik und künstlicher Intelligenz zu entwickeln. Diese Rückbesinnung auf den Menschen in anthropologischer Allgemeinheit deutet auf eine Renaissance der politischen Anthropologie hin.
Dirk Jörke Livres






Demokratie als Erfahrung
John Dewey und die politische Philosophie der Gegenwart
John Dewey (1859-1952) zählt neben Charles Sanders Peirce und William James zu den Gründervätern des Pragmatismus, einer philosophischen Strömung, die eine Renaissance erlebt und zunehmend im internationalen Diskurs präsent ist. Während anfangs theoretische Fragen im Vordergrund standen, wächst das Interesse an den ethischen, ästhetischen, sozialphilosophischen und demokratietheoretischen Aspekten des Pragmatismus und Deweys Werk. Sein umfangreiches Schaffen zentriert sich auf eine Philosophie der Demokratie, die im normativen Gehalt seines Erfahrungsbegriffs verankert ist. Diese Verbindung von Erfahrung und Demokratie ist der Schlüssel zu seinem Denken. Dewey ist der einzige Pragmatist, der eine umfassende politische Philosophie entwickelt hat, die im Kontext der tiefgreifenden Veränderungen des amerikanischen Gemeinwesens nach dem Bürgerkrieg (1861-1865) zu sehen ist. Die Industrialisierung und Urbanisierung führten zur Erosion der protestantisch-demokratischen Traditionen. Zudem entstand in den Städten eine neue Unterschicht, was die gesellschaftliche Integration zunehmend erschwerte. Deweys Philosophie bietet somit wertvolle Einsichten in die Herausforderungen und Möglichkeiten der Demokratie in einer sich wandelnden Gesellschaft.
Herrschte lange Konsens über die Einbindung von Nationalstaaten in transnationale Gemeinwesen wie die Europäische Union, geriet diese Ansicht zuletzt unter Druck: Brüssel sei zu weit weg, die Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten hätten kaum Einfluss – »Take back control« lautete das Motto der Brexiteers. Angesichts dieser Konstellation sichtet Dirk Jörke – von Aristoteles bis Jürgen Habermas – Argumente und Befunde zum Zusammenhang zwischen der Größe und der demokratischen Qualität von Staaten. Ausgehend von einer republikanischen Position, bei der die Gleichheit und die Partizipation der Bürgerinnen im Mittelpunkt stehen, plädiert er in seinem so wichtigen wie kontroversen Beitrag für eine räumliche Begrenzung der Demokratie und den Umbau der EU zu einer Konföderation.
Die überlieferten Muster der politischen Repräsentation sind in eine tiefe Krise geraten. Populismus ist die zentrale Herausforderung liberaler Demokratien. In den letzten Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften eine intensive Debatte über dessen Ursachen, dessen Legitimität und auch zivilgesellschaftliche Gegenstrategien entzündet. Die Beiträge des Sonderbandes haben das Ziel, diese Debatte zu intensivieren. Dabei werden von einigen Beiträgen insbesondere die liberal-demokratischen Antworten auf den Populismus problematisiert. Der Sonderband versammelt ideengeschichtliche, empirische, zeitdiagnostische und normativ-konzeptionelle Perspektiven. Insgesamt zielen die Beiträge damit auf eine gesellschaftstheoretische Reflexion des gegenwärtigen Populismus. Mit Beiträgen von Heinz Bude, Klaudia Hanisch, Olaf Jann, Maik Herold, Dirk Jörke, Cornelia Koppetsch, Werner Krause, John P. McCormick, Kolja Möller, Claire Moulin-Doos, Tobias Müller, Oliver Nachtwey, Steven Schäller, Martin Seeliger, Michael Sommer, Marcus Spittler, Philipp Staab, Hans Vorländer, Aiko Wagner
Populismus wurde lange Zeit als eine politische und gesellschaftli che Randerscheinung wahrgenommen. INzwischen greift dieses vermeintliche Randphanomen allerdings immer starker ins Zentrum der Gesellschaft. BEi einigen politischen Akteuren und Beobachtern fuhrt dies zu einem Gefuhl der Verunsicherung, bei anderen keimt die Hoffnung auf Veranderung auf. POpulismus politisiert und er erschuttert alte Gewissheiten. ER sorgt damit auch fur Orientierungsbedarf. INdem dieser Band in die wichtigsten Theorien uber den Populismus einfuhrt, gibt er Antworten auf zentrale Fragen, die in Offentlichkeit und Wissenschaft im Angesicht des Populismus in den Fokus geruckt sind: Was ist Populismus und unter welchen Bedingungen entsteht er? Wie ist Populismus zu bewerten und was hat sein gegenwartiger Aufstieg zu bedeuten?
In der vorliegenden Studie wird gezeigt, wie zentrale Autoren der Ideengeschichte – darunter Thukydides, Platon, Aristoteles, Burke, die Autoren der Federalist Papers, Sieyes, Tocqueville und Weber – demokratische Praktiken wie Wahlen, Volksversammlungen und Beratungsprozesse beschrieben und kritisiert haben. Die grundlegende These der Arbeit ist, dass diese Kritik auf eine Veränderung der demokratischen Praktiken abzielt. Damit schließt der Autor an die Überlegungen der Cambridge-School zum begriffspolitischen Charakter bedeutender ideengeschichtlicher Werke an. Indem nämlich die ideengeschichtlichen Autoren demokratische Praxis beschreiben und darstellen, greifen sie immer auch politisch in den Kampf um die semantische Hegemonie ein. Im Ergebnis wird deutlich, dass unser gegenwärtiges Demokratieverständnis wesentlich von ideengeschichtlichen Kritikern demokratischer Praxis geprägt worden ist. Insofern ist diese Studie ein Beitrag zur Geschichte des stets umstrittenen Demokratiebegriffs.