Die öffentliche Meinung scheint eindeutig: Verwahrlosung greift um sich! 10 bis 20 % der Kinder seien verwahrlost, melden die Medien. Ein alter Labeling-Begriff scheint wieder en vogue zu sein. Rudi Dutschke hatte noch eine Antwort auf den Vorwurf, er sei „verlaust“: Die Herrschenden versuchten so Minderheiten an den Rand der Gesellschaft zu drücken, meinte er. In der Psychotherapie gibt es den Begriff des Menschen „auf niedrigem Strukturniveau“. Er zeigt die Angst und die Hilflosigkeit, die Mitmenschen mit Problemen bei uns hervorrufen, wenn wir aufgefordert sind, Ihnen psychischen Beistand zu leisten. Psychotherapie für Verwahrloste gibt es nicht! Aber Wohlstandsverwahrloste schon. Die mittelstandsorientierte, bürgerlich verankerte Psychotherapie kann sich aus ethischen Gründen Verwahrlosungsproblemen nicht verschließen. Welche Antworten finden PsychotherapeutInnen und PsychiaterInnen auf verwahrloste Alte, verwahrloste psychisch Kranke und gesellschaftliche Strukturen, die zu verwahrlosen scheinen? Gilt die alte Effizienzformel der Psychotherapiewirkungsforschung: „Wer hat dem wird gegeben“ mit der Ergänzung, „Wer nichts hat, bekommt nichts!“? Oder verdrängen wir nur unsere eigenen Verwahrlosungstendenzen und die Angst, unter verwahrlosenden Umweltbedingungen mit zunehmenden Alter selbst zu verwahrlosen? Vielleicht sollten wir helfen, ein Missverständnis zu klären: Verwahrlosung ist nicht selbstverschuldet und schicksalhaft, sondern könnte ein Indikator für psychische Überforderung, psychische Belastung und psychische Störung sein, der wir effektive Therapien in Psychotherapie und Psychiatrie entgegensetzen können!
Jürgen Junglas Livres






Bereits seit 1995 veranstaltet die Gesellschaft für Allgemeine Psychotherapie e. V., regelmäßig die Rheinischen Allgemeinen PSYCHOtherapietage. Seit 2005 erscheinen die Tagungsbände zu dieser Fachveranstaltung für Psychotherapie beim Deutschen Psychologen Verlag. Im Jahrbuch „Schlaf, Ruhm und Romantik in der Psychotherapie“ werden die vier Themenbereiche der Tagungen in den Jahren 2010 bis 2012 zusammengefasst: • Wa(h)re Psychotherapie!? Die Ware Psychotherapie und die Wahrheit des Patienten • Heilender Schlaf für zerstörte Träume • „Ich will berühmt werden!“ – Narzistische Balancen in der Medienwelt • On-Leid für Romantiker – Konflikte im Facebook-Zeitalter
Körperliche und seelische Erkrankungen sind oft miteinander verbunden, doch sowohl Patienten als auch Therapeuten haben nur begrenztes Wissen über die Wege zur Heilung. Die Körperpsychotherapie, inspiriert von Janet, Freud und Reich, ist zwar bekannt, aber nicht als standardisierte Behandlung etabliert. Die Überweisung zwischen Fachärzten führt nicht automatisch zu einer integrierten Therapie. Patienten fühlen oft, dass psychosoziale Faktoren ihre körperliche Gesundheit beeinträchtigen, während andere in der Hoffnung auf Heilung Psychopharmaka ausprobieren. Psychotherapie könnte jedoch die Behandlung von Erkrankungen wie Diabetes und Herzerkrankungen effektiver und kostengünstiger gestalten, was eine klassische Win-Win-Situation darstellt. Die Herausforderung besteht darin, Patienten zu überzeugen, dass Psychotherapie auch für sie von Nutzen sein kann, ohne dass sie sich als „verrückt“ fühlen. Eine mögliche Kampagne könnte den Nutzen von Psychotherapie verdeutlichen, indem sie die Botschaft vermittelt, dass auch der Körper Unterstützung benötigt. Auf der 15. Rheinischen Allgemeinen PSYCHOtherapietagung wurde diskutiert, wie man den körperlich und seelisch erkrankten Patienten die bestmögliche Therapie anbieten kann.
In Nordrhein-Westfalen sind 10,7 % der Bevölkerung „Nichtdeutsche“, besonders in Städten wie Köln (20,5 %). Ihr psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfebedarf unterscheidet sich von dem der deutschen Bevölkerung, die ebenfalls heterogen ist (z. B. Russlanddeutsche). Die gesellschaftlichen Haltungen zu Integration und Abgrenzung spiegeln sich auch bei psychiatrisch-psychotherapeutischen Anbietern wider, die als „ökonomisch-deutsch“ bezeichnet werden. Psychotherapeuten könnten helfen, Verständigungsprobleme zwischen „gestört-deutsch“ und „gesund-nichtdeutsch“ sowie „gestört-nichtdeutsch“ und „gesund-deutsch“ zu reduzieren. Allerdings ist Psychiatrie und Psychotherapie Teil einer (westlichen) Kultur, was zu einer missratenen Indoktrination führen könnte. Zudem könnte die „Psycho-Kultur“ des Kapitalismus durch archaische Impulse und fundamentalistische Strömungen infrage gestellt werden, was zu Verwirrung zwischen „Psycho-Technik“ und „Kultur-Technik“ führt. Psychotherapie versucht, den Patienten „dort abzuholen, wo er steht“, und sich auf dessen Sprache einzustellen, mit dem Ziel, ihn zu einem Ort der „Emanzipation und Selbstbestimmung“ zu führen. Die Begegnung mit Fremden birgt sowohl Faszination als auch Angst. Alle, die an dieser Erfahrung teilnehmen möchten, sind herzlich eingeladen.