Am Karfreitag 2008 verließ Anna Altschuk ihre Charlottenburger Wohnung. Drei Wochen später wurde sie tot aus der Spree geborgen. Bis heute glauben viele Menschen in Russland, dass die Künstlerin von orthodoxen Fanatikern umgebracht wurde. Wenige Jahre zuvor stand sie in Moskau wegen Verletzung religiöser Gefühle vor Gericht und war einer Hetzkampagne ausgesetzt. Wochen vor ihrem Tod hatte sie Morddrohungen im Internet gefunden. Der Philosoph Michail Ryklin versucht, Leben und Sterben Anna Altschuks, mit der er fast 35 Jahre verheiratet war, bis zu dem Tag ihres Verschwindens nachzuzeichnen. Die Spätzeit der Sowjetunion, die turbulenten 90er Jahre, die das Paar nach Frankreich, in die USA, nach Großbritannien und Deutschland führte, und die mit dem Machtantritt Putins beginnende »Eiszeit« bilden den zeithistorischen Hintergrund des Buches. Einfühlsam zeichnet Ryklin das Porträt einer sensiblen, von Selbstzweifeln gepeinigten Frau, die als Lyrikerin, Künstlerin, Feministin auf der Suche war. Er gibt Einblicke in die unabhängige Künstlerszene der Perestroika und macht begreifbar, wie ein Epochenbruch sich im persönlichen Leben auswirken kann: als Euphorie einer nie gekannten Freiheit und − ihre andere, dunkle Seite − als Zustand der Einsamkeit und Entwurzelung. Mit großer Offenheit erzählt er die Geschichte einer Ehe: auch ein persönlicher Überlebensbericht.
Michail Kuzʹmic Ryklin Livres






Im Januar 2003 wurde im Moskauer Sacharow- Zentrum die Kunstausstellung »Achtung, Religion!« verwüstet. Doch nicht die Täter sahen sich öffentlicher Ächtung und juristischer Verfolgung ausgesetzt, sondern die Ausstellungsmacher und Künstler. In einem aufsehenerregenden Prozeß wurden sie der »Beleidigung der religiösen Gefühle des russischen Volkes« angeklagt und mit Lagerhaft bedroht. Michail Ryklin, der das groteske Verfahren im Gerichtssaal verfolgt hat, beschreibt nicht nur die an owjetzeiten erinnernde Ächtung der zeitgenössischen Kunst, die antisemitischen Pöbeleien, die erstarkende Allianz von russisch-orthodoxer Kirche und Geheimdienst. In seiner intellektuellen Umgebung beobachtet er das Schwinden von Zivilcourage, zunehmende Angst, zynische Passivität. Ob der Staat gegen Künstler, Wissenschaftler, Umweltschützer oder wie im Fall Chodorkowskij gegen Oligarchen vorgeht – Ryklin analysiert die Gefahr eines neuen Faschismus russischer Spielart.
Kommunismus als Religion
Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution
Die Bolschewiki inspirierte der Glaube – eine Art weltliche Religion – an die Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung der rückständigen bäuerlichen Gesellschaft. Von Anfang an erklärten sie der Orthodoxie den unversöhnlichen Krieg, installierten ein System von kommunistischen Riten und betrieben eine effektive Propaganda der Errungenschaften des neuen Regimes. Zentrum des sowjetischen Kultus wurde das Leninmausoleum: dort liegt bis zum heutigen Tag der einbalsamierte Leichnam des toten Parteiführers. In den dreißiger Jahren kommt es zu seiner Vergöttlichung, wird im Recht die „Schuldvermutung“ eingeführt, in der Kunst ein einheitlicher Stil (der Sozialistische Realismus) verordnet und der Sowjetpatriotismus eingepflanzt. Keine weltliche Religion des 20. Jahrhunderts kann sich in ihrer Anziehungskraft für die Intellektuellen mit der kommunistischen (Raymond Aron nannte sie das „Opium für die Intellektuellen“) vergleichen. Die Gründe dieser Verzauberung zu klären ist die wichtigste Aufgabe des Buches. Was am ursprünglichen revolutionären Glauben und seiner Kultur erschien Walter Benjamin, André Gide, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und vielen anderen als ungewöhnlich wertvoll und sogar einzigartig? Mikhail Ryklin zeichnet die Konturen des kommnistischens Glaubens, die Funktionsweise des Kommunismus als Religion nach.
Räume des Jubels
Totalitarismus und Differenz. Essays
Michail Ryklin ist die wohl prononcierteste Gestalt der neuen Philosophie in Rußland. In konstruktiv-kritischer Aneignung von französischer Gegenwartsphilosophie, Psychoanalyse und westlicher Totalitarismustheorie entwickelt er seit den späten 80er Jahren eine spezifische posttotalitäre Philosophie. Im Zentrum steht die kontrastive Analyse der »Logiken des Terrors« im Nationalsozialismus und in der Stalinzeit. Anhand von literarischen, technischen und propagandistischen Texten untersucht Ryklin die Diskurse, die so zentrale sowjetische Topoi wie den Metrobau in Moskau oder die »Haussmannisierung« der kommunistischen Kapitale begleiten und den »Effekt des Jubels« (André Gide) erzeugen. Jubel ist für Ryklin »das Imaginäre in der Zeit des Terrors«, Reaktion auf die totale Ungesichertheit des individuellen Lebens. Während die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit im heutigen Rußland ein Manko darstellt, sind seine Essays ein mutiger Versuch, an das tiefste soziale Trauma der jüngeren russischen Geschichte zu rühren.
Leben, ins Feuer geworfen
Die Generation des Großen Oktobers
»Himmelsstürmer« hießen die jungen Leute, die 1917 für die Oktoberrevolution brannten und sich dem radikalen Umbau der Gesellschaft verschrieben. Viele endeten tragisch: im Lager an der Kolyma oder in den Kellern der Lubjanka, des berüchtigten Moskauer Geheimdienstgefängnisses. Es waren die Schüler und Gefährten Lenins, die den Gewaltexzessen seines Nachfolgers Stalin zum Opfer fielen. Für Michail Ryklin ist dieses Drama persönliche Geschichte. Die Söhne des Urgroßvaters, eines Geistlichen in Smolensk, gehörten zur bolschewistischen Elite. Nikolaj Tschaplin stieg in der Jugendorganisation Komsomol bis zur Führungsebene auf, Sergej, ein paar Jahre jünger, arbeitete schon mit fünfzehn als Kurier und war später für den Auslandsgeheimdienst in Finnland und Estland tätig. Der eine wirkte von innen für die Revolution, der andere wollte sie in die Welt tragen – bis beide in die Mühlen des Terrors gerieten. Gestützt auf Archivmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert Ryklin das Leben und den gewaltsamen Tod seiner Verwandten, die Teil des sowjetischen Herrschaftssystems waren. Sein erschütternder Bericht konfrontiert uns mit dem Innersten der totalitären Macht und dem Versuch Einzelner, ihre menschliche Integrität zu behaupten.
Dekonstruktion und Destruktion
Gespräche
Nach 1990 war Michail Ryklin maßgeblich an der Verbreitung westeuropäischer Gegenwartsphilosophie in Russland beteiligt. In den hier versammelten Gesprächen mit deren wesentlichen Exponenten ergibt sich eine perspektivische Brechung, eine facettenreiche Einführung in den je »anderen« Blickwinkel, die dem kundigen wie dem unkundigen Leser ebenso zugute kommt wie dem jeweiligen Gesprächspartner. Ob es nun darum geht, (eine) Philosophie von außerhalb her zu verstehen, oder immer wieder um die sowjetische Erfahrung intellektuellen Lebens. Es ist der ureigene Modus philosophischer Lektüre, das hartnäckige Fragen, das sich im Gespräch produktiv nach außen kehrt und verhindert, dass das Sprechen monologisch wird: den Nullpunkt der Diskussion, von dem aus endgültige Deutungen möglich wären, gibt es nicht. Gespräche mit Jacques Derrida, Félix Guattari, Jean Baudrillard, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Paul Virilio, Richard Rorty, Slavoj Zizek, Susan Buck-Morss und Boris Groys.
Verschwiegene Grenze
Briefe aus Moskau 1995-2003
Seit Mitte der 1990er Jahre verfasst der russische Philosoph Michail Ryklin regelmäßig Briefe für die Rubrik „Korrespondenzen aus Moskau“ in der Zeitschrift LETTRE International. Diese Briefe sind nun erstmals ungekürzt in einem Buch versammelt, das es dem Leser ermöglicht, ein Jahrzehnt der unmittelbaren Vergangenheit aus der skeptisch-kritischen Perspektive des Philosophen zu betrachten. Der Band wird durch ein Vorwort des Autors und ein Nachwort des Übersetzers Dirk Uffelmann ergänzt, das Ryklins „Philosophie als Publizistik“ beleuchtet. Ryklins Reflexionen haben stets Moskau als Ausgangspunkt, die Stadt im äußersten Osten Europas, wo die Briefe verfasst wurden und die Erlebnisse, Beobachtungen und Kontextualisierungen miteinander verwoben sind. Hier werden „verschwiegene Grenzen“ sichtbar, entlang derer sich die Wahrnehmung von Fremdheit und Andersartigkeit verschiebt. Oft sind es alltägliche Ereignisse, wie der Sturz eines Mannes auf dem Trottoir, die Ryklin zu einer tiefgründigen Analyse größerer gesellschaftlicher Symptome anregen. In einem Jahrzehnt, geprägt von Wirtschaftskrisen, Terrorismus, Repression und politischen Wendungen, zeichnet Ryklin ein Bild Russlands als „Laboratorium“ für weltweite Entwicklungen.

